Analoguhren: Weil Du gar nicht wissen willst, wie spät es ist

Digitaluhren sind genauer und man kann schneller die Zeit ablesen – so eine gängige Meinung. Nur dumm, dass diese Eigenschaften gar nicht so wichtig sind, wie sie scheinen.

Digitale und analoge Uhr
Zwei meiner drei Wecker. Einer digital, einer analog. Frage lieber nicht, warum ich drei Wecker brauche – Du kannst es Dir sicher denken.

Analog war gestern, digital ist heute. Wer im 21. Jahrhundert noch auf rotierende Zeiger statt auf leuchtende Displays starrt, wird zunehmend für einen Steampunk gehalten. Dabei haben analoge Anzeigen durchaus Vorzüge – und zwar nicht nur in Sachen Robustheit und Energiesparsamkeit, sondern auch bezüglich der Darstellung.

Der Mensch ist kein Computer

Durch den Hype um Smartwatches bin ich im letzten Jahr immer wieder über Online-Diskussionen gestolpert, in denen allgemein über Armbanduhren diskutiert wurde. Auch analoge und digitale Darstellung waren dabei einmal kurz Thema, aber die geäußerten Meinungen waren ähnlich vielseitig wie die Beurteilung der Prohibition durch diverse Schnapsbrennereien. Digitale Zeitanzeige sei demnach das einzig Wahre und das analoge Zeug bestenfalls noch etwas für Sammler und Schmuckliebhaber.

Vielleicht lag es daran, dass es sich um eine Diskussion auf heise.de handelte. Da diese Seite einen starken Fokus auf Informatik- und Technik-Themen setzt, haben wohl auch die meisten Nutzer ein Weltbild aus Nullen und Einsen.

Besonders deutlich wurde das in einem Beitrag, in dem doch tatsächlich jemand meinte, eine analoge Uhr müsse man erst einmal bildlich erfassen und dann in Zahlen übersetzen, während diese Zahlen in der digitalen Version sofort vorhanden wären. So funktioniert ein Computer, aber so funktioniert kein Mensch.

Menschlich = schnell & schlampig

Auch bei anderen Geräten als Uhren sind Zeiger noch nicht ausgestorben, wenn auch oft auf der Liste der bedrohten Arten. Wir finden Zeiger mitunter noch auf Armaturenbrettern, Thermometern oder Waagen. In all diesen Formen hat die vorhandene Skala einen Darstellungsvorteil gegenüber nackten Zahlen: Sie bietet einen Kontext für den aktuellen Wert.

Stelle Dir vor, Du schaust auf meine Kombitherme! Dort sagen Dir digitale Ziffern, dass der Wasserdruck momentan vier bar beträgt. Wenn Du Dich mit Gas- und Wasserinstallationen ähnlich gut auskennst wie ich, sagt Dir das wahrscheinlich folgendes: absolut nichts. Jetzt ist diese Anzeige bei mir aber analog ausgeführt. Wenn Du siehst, dass der Zeiger bei vier bar am äußersten Anschlag steht, kannst Du Dir als Laie zumindest sagen: »Ich habe zwar keinen blassen Schimmer, was das ist, aber es ist verdammt viel.«

Digitale und analoge Anzeige an einer Kombitherme
Zwei Anzeigen an meiner Kombitherme – eine digital, eine analog. Würde die Analoganzeige auf 4 stehen, wüsste durch die Skala jeder, dass das viel ist. Ob die vollkommen kontextlose 23 auf der Digitalanzeige viel oder wenig ist, weiß dagegen nur der Fachmann.

Und das ist oft auch schon alles, was wir wissen wollen. Beim Blick auf die Tankanzeige im Auto interessieren wir uns selten für eine zweite Kommastelle, sondern meistens nur dafür, ob der Tank eher voll oder eher leer ist. Beim Blick auf ein Außenthermometer wollen wir nicht wissen, ob es 25,3° C oder 25,5° C hat, sondern ob es kalt oder warm ist. Eine analoge Anzeige vermittelt solche Informationen unglaublich schnell, weil wir als Menschen sehr effizient darin sind, ein grobes Gesamtbild zu verarbeiten.

Mit nackten Zahlen können wir dagegen relativ wenig anfangen. Auf einer digitalen Anzeige müssen wir die Ziffern auch erst einmal optisch erfassen, verarbeiten und interpretieren; Im Vergleich zu einer Position auf einer Skala sind Ziffern allerdings wesentlich abstrakter und die Interpretation daher schwieriger. Nicht umsonst werden sogenannte Zahlenfriedhöfe üblicherweise als Diagramme aufbereitet.

Zirka-Zeit

Was für Tankanzeigen und Thermometer gilt, hat letztlich auch bei Uhren Gültigkeit. Für die meisten alltäglichen Situationen ist es vollkommen ausreichend, die Uhrzeit nur grob benennen zu können. Wichtige Termine sollte man ohnehin so planen, dass man nicht erst in der letzten Minute erscheint.

Diese Ungenauigkeit spiegelt sich auch in der Sprache wider. Einzelne Minuten sind da praktisch nicht existent. Alles unterhalb von fünf Minuten wird entweder gerundet oder als schwammiges »kurz vor« oder »kurz nach« zusammengefasst. (Kann aber sein, dass das regional unterschiedlich ist – vielleicht gibt es hier einen Unterschied zwischen österreichischer Gemütlichkeit deutscher Pünktlichkeit.)

Du willst nicht wissen, wie spät es ist.

Ich würde sogar noch weiter gehen und behaupten: In den meisten Fällen, in denen wir auf Uhren schauen, wollen wir gar nicht wissen, wie spät es ist. Damit meine ich aber nicht etwa übertrieben gestikulierte Pseudo-Uhr-Blicke, um aller Welt zu zeigen, dass man eine goldene Rolex trägt, sondern Situationen, in denen wir selbst meinen, die Uhrzeit zu lesen.

Im Lauf der letzten Jahre wurde ich immer wieder von Fremden nach der Zeit gefragt. Dabei ist mir peinlich bewusst geworden, dass ich es oft nicht weiß, obwohl ich gerade erst auf meine Uhr geschaut hatte. Nach ein wenig Überlegen habe ich dafür aber eine logische Erklärung gefunden: In der Regel interessiert mich nicht die konkrete Uhrzeit, sondern eine bestimmte Dauer.

Ich will nicht wissen, ob es 07:32 oder 07:43 ist, sondern wie lange ich noch habe, um rechtzeitig ins Büro zu kommen. Ebenso will ich nicht wissen, ob es 22:11 oder 23:01 ist, sondern wie lange ich höchstens noch auf bleiben sollte, um für den nächsten Morgen nicht meine drei Wecker um einen vierten ergänzen zu müssen. Kombiniert mit der Tatsache, dass eine grobe Orientierung ausreicht, lautet das Ergebnis meines Uhrablesens dann schlicht »mehr als genug Zeit übrig« oder ähnlich. Mit dieser vollkommen subjektiven Angabe könnten die Leute, die mich nach der Uhrzeit fragen, reichlich wenig anfangen.

Und ich denke, dass solche Fälle eher die Regel als die Ausnahme sind. Sofern man nicht gerade in einem dunklen Keller – gefesselt und mit einer Beule am Kopf – aus einer Bewusstlosigkeit erwacht, hat man ja ungefähr im Blick, wo man gerade in seiner Tagesplanung steht.

Wenn am Freitagmorgen mein zweiter Wecker läutet, weiß ich, dass ich nach Frühstück und Morgenhygiene etwa zur richtigen Zeit weg komme, um pünktlich im Büro zu sein. (Beim dritten Wecker wird es mit dem Frühstück knapp.) Ein Blick auf die Uhr dient hier nur zur groben Orientierung, ob ich im Plan liege – und dazu genügt die ungefähre Position des Minutenzeigers. Stünde der Stundenzeiger an der falschen Position, würde ich das lange nicht bemerken. Im Prinzip wäre also für den Alltag eine etwas flexiblere Sanduhr vollkommen ausreichend.

Wo Zeiger sind, sind auch Schatten

Natürlich soll das jetzt kein Lobgesang auf Analoguhren sein. Auch die Zeigerdarstellung hat ihre Schattenseiten – und das nicht nur zwischen Zeiger und Uhrblatt, sondern auch im übertragenen Sinn. Wer wirklich die ausführliche und exakte Uhrzeit benötigt – etwa, um sie irgendwo hin zu schreiben –, kommt mit einer Digitaluhr viel direkter an den gewünschten Wert. Wenn es ganz dumm läuft, kann man die exakte Minute oder Sekunde auf einer Analoguhr gar nicht ermitteln, weil diese vor lauter Minimalismus-Fetischismus nur vier Skala-Markierungen an den Positionen 3, 6, 9 und 12 hat.

Im Vergleich zu etwa einer Tankanzeige oder einem Thermometer sind Uhren mit ihren zwei bis drei Zeigern und der Mehrfachbelegung der Skala auch relativ komplex. Die Ironie an dieser Sache ist, dass die zusätzlichen Zeiger gerade dazu da sind, um die von mir in diesem Artikel so heruntergespielte Genauigkeit zu erhöhen.

Für die alltägliche zeitliche Orientierung würde eigentlich ein Stundenzeiger ausreichen, da dieser ja auch Zwischenpositionen einnimmt. Beseitigte man dann noch die Doppelbelegung der Skala, indem man den Bereich von zwölf auf 24 Stunden erweitert, wäre die Komplexität einer Uhr genauso niedrig wie jene anderer Zeigergeräte. Das ist nicht etwa eine wirre Spinnerei von mir – es gibt tatsächlich den einen oder anderen Anbieter derartiger Modelle und die ersten mechanischen Uhren der Geschichte waren ebenfalls Ein-Zeiger-Uhren.

Einzeiger-Uhr Botta UNO 24
Alltagstauglich: Eine Einzeiger-Uhr mit 24-Stunden-Skala
(Modell Botta UNO 24, Bildquelle: DerHans04)

In dem anfangs erwähnten Online-Forum bekräftigte ein Schreiber die Überlegenheit der Digitaluhren damit, dass seine kleine Tochter ihre Digitaluhr schon so gut ablesen könne. Offen ließ er allerdings, was genau er damit meinte. Man kann auch einem Papagei beibringen, »Halleluja« zu singen – ob der Papagei deshalb ein Verständnis von Religion oder die Tochter ein Verständnis von Zeit hat, steht auf einem anderen Blatt.

Kommentare

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Bisherige Kommentare

  • Robert R.

    "Alles unterhalb von fünf Minuten wird entweder gerundet oder als schwammiges »kurz vor« oder »kurz nach« zusammengefasst." - Ja, das ist in Deutschland auch so. :D Auch Aussagen, wie "viertel ...", "halb ...", "dreiviertel ..." bzw. "vierte vor ..." (ortsabhängig) sind sehr häufige Angaben. Und die reichen dann auch meist aus.

    • Michael Treml (Seitenbetreiber)

      Antwort an Robert R.:

      Gut zu hören, dass man da in Deutschland auch nicht so genau ist. :-)
      Mit Angaben wie »viertel« und »dreiviertel« will ich mich auch schon seit längerem einmal in einem eigenen Artikel auseinandersetzen. Vor allem das bei uns in Wien gebräuchliche »dreiviertel« sorgt bei vielen Leuten, die von weiter her kommen, immer wieder für Verwirrung.

      • Anonym

        Antwort an Michael Treml:

        "Dreiviertel" geht noch, aber bei "viertel" wird es problematisch. 20:15 Uhr heißt (von Osten nach Westen betrachtet) so bis Amstetten oder vielleicht Linz "viertelneun", ab dieser Grenze jedoch "viertel über acht". Wenn sich nun mehrere Personen besagte Uhrzeit als Termin ausmachen, kommt es regelmäßig zu Diskussionen, was jetzt eigentlich korrekt sei. Als Kompromiss bleibt dann 20:15, was zwar keiner so richtig mag, aber im Endeffekt jeder versteht.